Im Blickpunkt - Reformpädagogik

Von Sebastian Engelmann

In der Rubrik „Im Blickpunkt“ präsentieren wir besondere Highlights aus Archiven, die im Archivportal-D vertreten sind. Diese ausgewählten Archivalien geben Einblick in die Bestände und bieten Rechercheanregungen für eine mögliche Suche im Archivportal-D oder im Themenportal „Weimarer Republik“. Wir freuen uns, in diesem Monat einen wissenschaftlichen Beitrag von Dr. Sebastian Engelmann, Juniorprofessor an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, mit Quellen aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg präsentieren zu können.

 

Der jüdische Pädagoge und Politiker Kurt Hahn lebte von 1886 bis 1974. Zwischen diesen beiden Daten liegen zwei Weltkriege, Exilerfahrungen, Schulgründungen, gesellschaftliche Veränderung und politisches Engagement. Kurt Hahn wird in der Regel einer pädagogischen Strömung zugeordnet, die als Reformpädagogik bezeichnet wird. Die reformpädagogischen Ideen dieser Zeit bestimmten die bildungspolitische Diskussion der Weimarer Republik mit. Aber was meint Reformpädagogik? Als historische Reformpädagogik werden pädagogische Konzepte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bezeichnet, die sich aufgrund einer kulturkritischen Perspektive auf das Bildungssystem gegen erfahrungsarme Pädagogik, Drillschulen und autoritäre Verhältnisse auflehnten und eine andere Pädagogik imaginierten. Aus systematischer Perspektive meint Reformpädagogik pädagogische Überlegungen beispielsweise zu einer Demokratisierung der Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen mit partnerschaftlicher Ausrichtung oder auch die Beförderung der Selbsttätigkeit von Kindern und Jugendlichen. Freilich hat die Reformpädagogik, die oft genug pathetisch über Demokratisierung sprach, mit ihrer starken Betonung von Gemeinschaftsgefühl und oftmals nationalistischen und patriotischen Tendenzen auch dunkle Seiten. Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim (1966-1989) – dem ehemaligen Leuchtturm des reformpädagogischen Projekts – und auch die Fokussierung auf die Ausbildung von zukünftigen Eliten in vielen reformpädagogischen Einrichtungen zeigen, dass insbesondere die auf ihrer Schauseite so positiv wirkenden Institutionen in ihrer organisationalen Realität keineswegs die Utopien realisieren, die sie nach außen präsentieren. Zwischen programmatischen Schriften und der gelebten Praxis in den Einrichtungen lagen und liegen oft Welten.

 

Das Internat Schloss Salem in Baden

Eine reformpädagogische Institution, die bis heute Bestand hat, wurde von Kurt Hahn im Jahr 1919 gemeinsam mit seinem engen Freund Max Prinz von Baden (1870-1929), dem letzten Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs, gegründet: das Internat Schloss Salem. Ganz der politischen Ausrichtung Salems entsprechend, an der Ausbildung einer Führungselite zur Verbesserung der gesellschaftlichen Umstände mitzuwirken, wurden auch Politiker wie der ehemalige Reichsvizekanzler Friedrich von Payer (1847-1931) nach Salem geladen. Payer gehörte der Weimarer Reichsversammlung an und war Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP).

Einladung von Kurt Hahn an Friedrich Payer zur Teilnahme an einer Schulaufführung

Einladung von Kurt Hahn an Friedrich Payer zur Teilnahme an einer Schulaufführung, 1925. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, FA N 6339, 6.

 

Salem wartete zu Zeiten der Weimarer Republik mit einer heute eigentümlich erscheinenden Mischung aus deutschnationalem Konservatismus und Betonung aristokratischer Tugenden bei zeitgleicher demokratischer Orientierung auf, was sich auch in den Prinzipien der Schule niederschlägt. Diese werden beispielsweise von Pädagogen wie Theodor Bäuerle (1882-1956), der sich in der Weimarer Republik als Mitglied der DDP für die Volksbildung einsetzte, gelobt. Und auch der neukantianische Philosoph Leonard Nelson (1882-1927), der gemeinsam mit Minna Specht (1879-1961) das Landerziehungsheim Walkemühle leitete und bei dem Kurt Hahn in Göttingen erste Überlegungen zur Erziehungstheorie anstellte, zeigen Interesse an der Schule.

 

Durschlag eines Schreibens von Bertha Sindler-Gysin an Kurt Hahn; Anfrage eines Besuchertermins von [Max?] Warburg und Leonard Nelson in Salem

Durschlag eines Schreibens von Bertha Sindler-Gysin an Kurt Hahn; Anfrage eines Besuchertermins von [Max?] Warburg und Leonard Nelson in Salem, 20. September 1920-19. November 1920. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, FA N 6339, 1.

 

Bereits diese kurzen Einblicke verdeutlichen, dass die von Kurt Hahn gegründete, reformpädagogisch inspirierte Bildungs- und Erziehungseinrichtung eng mit der politischen Entwicklung und dem politischen Personal der Weimarer Republik verbunden ist. Für Kurt Hahn ist Pädagogik der Anfang der Politik. Pädagogik – und insbesondere die Elitenbildung – wird als Transmissionsriemen von politischen Einstellungen ersichtlich, eine Perspektive, die es immer wieder herauszuarbeiten gilt. Pädagogische Praxis kann nicht neutral sein, sondern ist insbesondere in ihrer historischen Genese kritisch zu reflektieren, um auch das zumeist positiv beurteilte Werk von Kurt Hahn im Hinblick auf seinen Beitrag zur politisch-historischen Bildung weiter zu erschließen.

 

Wir danken Herrn Dr. Sebastian Engelmann, Juniorprofessor an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, herzlich für die Bereitstellung.

Kontakt: sebastian.engelmann [at] ph-karlsruhe.de

 

Links zu den Quellen im Themenportal

Einladung von Kurt Hahn an Friedrich Payer zur Teilnahme an einer Schulaufführung

Durchschlag eines Schreibens von Bertha Sindler-Gysin an Kurt Hahn; Anfrage eines Besuchertermins von [Max?] Warburg und Leonard Nelson in Salem

 

Recherchemöglichkeiten

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